Hintergrund

Das Parodieverfahren bei Bach

Johann Sebastian Bach war bereits im 18. Jahrhundert ein Meister des Recyclings: Immer wieder nutzte er bereits vorhandene eigene Kompositionen und baute sie in neue Stücke ein. Ein Beispiel singen die Windsbacher aktuell: das Weihnachtsoratorium.

Man muss sich schon ziemlich genau im Kantatenwerk Johann Sebastian Bachs auskennen, um beim Hören seines Weihnachtsoratoriums (WO) ein bestimmtes „Aha-Erlebnis“ zu haben. Denn es waren vor allem die weltlichen Kantaten, die dem Thomaskantor als Vorlage für Chöre und Arien für das spätere Oratorium dienten. Diese Vorgehensweise bezeichnet man in der Musikwissenschaft als Parodieverfahren. Mit neuem Text und in neuem Kontext schuf Bach auf wunderbare Weise eine ganz neue Musik: BWV 248.
 
Über 20 (und damit fast ein Drittel) der Partien des WOs hat Bach sozusagen wiederverwertet. Eine schematische Übersicht im von Michael Heinemann herausgegebenen Bach-Lexikon zeigt eindrucksvoll die Zusammenhänge und verweist mit zahlreichen Pfeilen auf die neue Verwendung von Chören und Arien aus den Vorlagekompositionen in BWV 248. Laut Hans-Joachim Schulze ist das WO „bestimmt vom Miteinander original komponierter, beziehungsweise anderweitig geschaffener und in umgearbeiteter Gestalt übernommener Sätze“.

Weltliche Kantatensätze als Vorlage

Tatsächlich hat sich Bach für sein geistliches Oratorium in seinem weltlichen Kantatenwerk bedient. Lange Zeit war es für die Bach-Forschung und vor allem die -Enthusiasten problematisch, dies zu akzeptieren. Bach-Biograph Philipp Spitta schrieb 1880, der Thomaskantor habe ja eigentlich gar nichts „Unkirchliches“ schreiben können: „Seine weltlichen Gelegenheitswerke waren vielmehr unweltlich, und als solche erfüllten sie ihren Zweck nicht und der Componist gab sie ihrer eigentlichen Heimath zurück, wenn er sie zu Kirchenmusiken umwandelte“. Was Bach wohl zu dieser These sagen würde?
 
Albert Schweitzer missfiel vor allem, dass durch die Neutextierung Wort und Ton an vielen Stellen einander fremd geworden seien. Und in der Tat fallen einem, vergleicht man die Textpassagen der Vorlagen und des Oratoriums, Gegensätze auf.

Ein Beispiel: In der Kantate „Herkules auf dem Scheideweg“ – BWV 213 entstand 1734 als Geburtstagskantate für den sächsischen Prinzen Friedrich – heißt es „Ich will Dich nicht hören, / ich will Dich nicht wissen, / verworfene Wolllust, ich kenne Dich nicht.“ In der ersten Kantate von BWV 248 begegnet uns die Arie vom Alt gesungen: „Bereite Dich, Zion, / mit zärtlichen Trieben, / den Schönsten, den Liebsten / bald bei Dir zu sehn.“ Dort Ferne und Abwehr, hier die Sehnsucht nach Nähe. Ironischerweise behandelt das weltliche Vorbild die griechische Götterwelt, während das Weihnachtsoratorium die Ankunft des Christus thematisiert.


 
Den Sagenheld Herkules – hier dargestellt in einem Gemälde von Annibale Carracci (1560-1609) – lässt Bach fragen: „Treues Echo dieser Orten, / sollt ich bei den Schmeichelworten / süßer Leitung irrig sein? / Gib mit Deine Antwort: Nein!“ Das Echo antwortet entsprechend. Und im WO? Da fragt die gläubige Seele das Jesuskind mit den gleichen Tönen: „Flößt mein Heiland, flößt Dein Namen / auch den allerkleinsten Samen / jenes strengen Schreckens ein? / Nein, Du sagst ja selber nein.“ Weiter heißt es: „Sollt ich nun das Sterben scheuen? / Nein, Dein süßes Wort ist da! / Oder sollt ich mich erfreuen? / Ja, Du Heiland sprichst selbst ja.“ Der Echo-Dialog mit der Stimme des Jesus-Kindes greift dabei auf eine weit in das 17. Jahrhundert reichende Tradition zurück.
 
Aus der angeführten Glückwunschkantate kommt übrigens auch der Eingangschor vom vierten Teil des Oratoriums: „Lasst uns sorgen, lasst uns wachen“ wird zu „Fallt mit Danken, fallt mit Loben.“ Zwei weitere Eingangschöre sind ebenfalls im Parodieverfahren entstanden: „Jauchzet, frohlocket“ ist eine Blaupause von „Tönet, Ihr Pauken“ aus BWV 214, einer Geburtstagskantate für die sächsische Kurfürstin und polnische Königin Maria Josepha aus dem Jahr 1733, aus der auch der Chor „Blühet, Ihr Linden in Sachsen“ entnommen wurde: Im WO eröffnet er als „Herrscher des Himmels“ die dritte Kantate.
 
„Der Eingangschor des fünften Teils ist hingegen keine Parodie des Schlusschors ‚Hercules am Scheideweg‘, obwohl Bach dies ursprünglich geplant hatte“, weiß der Musikwissenschaftler Dr. Karl Böhmer. Diesen Gavotte-Chor „Lust der Völker, Lust der Deinen“ hatte Bach ursprünglich aus dem Schlussduett einer Köthener Serenata um 1723 (BWV 184a) in den Schlusschor einer Pfingstkantate von 1724 verwandelt (BWV 184) und dann noch einmal (mit Oboen statt Flöten und zusätzlichen Hörnern) für BWV 213 bearbeitet. Man sieht: Der Thomaskantor konnte sogar bereits Recyceltes wiederverwerten. Doch er verfuhr dabei natürlich nicht nach dem „Copy-paste“-System: „Der Eingangschor des fünften Teils von BWV 248 sollte eine weitere Parodie aller dieser Vorlagen sein und war auch so gedichtet worden“, erklärt Dr. Böhmer: „Bach entschied sich dann aber gegen die Parodie und hat den Eingangschor neu komponiert. ‚Ehre sei dir Gott gesungen‘ ist in seinem Autograph eindeutig eine Konzeptschrift, also eine erste Niederschrift ohne Vorlage.“

Wurzeln im 15. Jahrhundert

Seine Wurzeln hat das Parodieverfahren im 15. Jahrhundert und ist bis zum 17. in Messen von Josquin Desprez, Orlando di Lasso oder Giovanni Pierluigi da Palestrina dokumentiert. Als Vorlage dienten hier geistliche und weltliche Kompositionen wie Motetten oder Chansons. Anders als beim reinen Austausch von Textstellen nimmt der Komponist im Parodieverfahren durchaus auch Einfluss auf die musikalische Gestalt der Vorlage, indem er Stimmen hinzufügt oder weglässt, die Melodieführung, Tonart, Harmonie oder Rhythmik ändert. Bach nutzt zwei Techniken des Parodierens: Bei der für das WO angewandten wird der bereits vorhandenen Musik ein neuer Text unterlegt; in der zweiten Verfahrensweise löst der zu vertonende Text bestimmte Assoziationen an eine bestehende Komposition aus, die dann in neuem Zusammenhang verwendet wird, was Bach in seiner h-moll-Messe zeigt. So wird beispielsweise der Chor „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ aus BWV 12 zum „Crucifixus“ in BWV 232.
 
Was Bach bewogen haben mag das Parodieverfahren anzuwenden, liegt natürlich auf der Hand: Das Arbeitspensum des Komponisten war zumal als Thomaskantor derart hoch, dass es einfach eine enorme Erleichterung bedeutete, wenn Bach eigene Werke sozusagen kopierte. Zum anderen waren die besagten Glückwunschkantaten personengebundene Werke, die nicht zur Aufführung vor größerem Publikum oder Wiederholungen gedacht waren. Mit dem Parodieverfahren konservierte er besondere Stücke also gewissermaßen in neuem Gefäß. Allerdings vermutet Hans-Joachim Schulze auch, dass Bach einige Stücke durchaus „bereits vorausschauend auf eine Wiederverwendbarkeit hin angelegt“ haben könnte.

Ursprünglich keine universelle Kirchenmusik

Bachs WO ist ein eigenständiges Werk, selbst wenn es nicht als in seiner Gesamtheit aufzuführender Kantatenverbund angelegt war: Die einzelnen Teile schrieb der Thomaskantor für die Weihnachtszeit 1734/1735 und hier jeweils als „Haupt-Musicen“ für die Gottesdienste an St. Thomas und St. Nicolai an den Feiertagen zwischen dem ersten Weihnachtstag und Epiphanias – also nicht als universelle Kirchenmusik, als die wir sie heute auffassen, wohl aber als ein zyklisches Ganzes, in dem sich das Folgende auf das Vorangegangene bezieht. Heutige Aufführungen aller sechs Kantaten an einem Tag oder gar Abend entbehren allerdings jedes historischen Vorbilds und sind, um es diplomatisch zu formulieren, eine kräftezehrende Herausforderung nicht nur an die Aufführenden, sondern auch an den Zuhörer. Daher beschränkt man sich, wie auch in diesem Jahr in den Konzerten der Windsbacher, sinnvollerweise meist auf eine Auswahl oder die Aufführung in zeitlich versetzten Blöcken. Auf seiner Spanientournee singt der Knabenchor in Valladolid, Barcelona, Sevilla und Madrid; in Deutschland gastiert er in Frankfurt, Nürnberg und Ansbach.


 
Abschließend sei das Vorwort der Bärenreiter-Ausgabe von Bachs Weihnachtsoratorium zitiert. Alfred Dürr schreibt hier: „Bei der Komposition bewundern wir wieder, wie so oft, die Fähigkeit Bachs, aus verschiedenartigen älteren und ad hoc komponierten Stücken ein neues und in sich ausgewogenes Gesamtwerk zu schaffen.“ Als Fazit zieht Dr. Karl Böhmer: „Die besagten Zusammenhänge erinnern an die komplexen Strukturen, in denen Händel seine Pasticcio-Opern aufgebaut hat, eine in den 1730er-Jahren besonders gefragte ‚Technik‘ von Opernkomponisten.“ Bach habe wohl sehr gut gewusst, dass seine weltlichen Serenaten und Dramen bald nicht mehr gefragt sein würden. Sein Weihnachtsoratorium dagegen habe er ganz oder in Teilen bis zu seinem Tod immer wieder aufführen können. „Dank seiner genialen Verbindung mit Evangelienbericht und Choralstrophen ist daraus in BWV 248 natürlich etwas völlig Neues geworden, ein echtes Weihnachtsoratorium eben.“