Hintergrund

Mehr Knabenchor geht nicht

Um ihr 75-jähriges Bestehen zu feiern, hatten die Windsbacher jetzt fünf Gastchöre aus Deutschland, Spanien, Polen und Norwegen nach Nürnberg eingeladen. In gemeinsamen Konzerten präsentierten sie das Kulturgut Knabenchor in seiner ganzen Klangfülle.

Es war ein Festival der Superlative: Weit über sechs Stunden Konzert mit insgesamt 300 Sängern aus vier verschiedenen Ländern, die zusammen über 2.800 Jahre Chorgeschichte dokumentieren und das bei einer Rekordhitze von über 35 Grad Celsius – besser als in den beiden großen Nürnberger Innenstadtkirchen St. Lorenz und St. Sebald konnte man diesen Tag einfach nicht verbringen.

Der Windsbacher Knabenchor feierte 2021 sein 75-jähriges Bestehen. Das Knabenchorfestival sollte daher eigentlich schon im vergangenen Jahr stattfinden, doch Corona verhinderte auch das. Darum war man nun doppelt froh, endlich miteinander musizieren zu dürfen: Jeweils zwei Chöre teilten sich sozusagen attacca drei Konzerte, bis man dann zum großen Abschlusskonzert in St. Lorenz noch einmal alle sechs Ensembles erleben durfte – zu guter Letzt dann auch noch gemeinsam.

Windsbacher eröffnen mit vier Auftragswerken

Die Eröffnung gestalten die Windsbacher als Gastgeber in St. Sebald und beeindruckten einmal mehr mit Akkuratesse, Präzision und packendem Klang. War da eine Pandemie, die den Chor zwei Jahre lang daran hinderte zu singen? Davon ist – zum Glück! – nichts zu merken. Dafür kann man gleich vier anlässlich des Jubiläums in Auftrag gegebene Kompositionen hören: „Musik“ von Wolfgang Eggert und „Kinder des Lichts“ von Jan Sandström, wo der Klang wie eine Kerze anmutet, die nach und nach den Raum erhellt; das „Laudes Creaturarum“ von Javier Busto ist mitreißend und die Motette „Ich lebe mein Leben“ von Vytautas Miskinis könnte nicht nur durch ihr tonales Kreisen, sondern auch ihre Botschaft so etwas wie die „Hymne“ der Windsbacher werden: „Bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang?“, fragen sich die Jungs da – für den Moment ist die Antwort klar.

Zeitgenössisch geht es auch mit dem Poznański Chór Chłopięcy unter der Leitung von Jacek Sykulski weiter. Die Gäste aus dem polnischen Posen gefallen mit vollem, sattem Klang, der an Kirchenglocken erinnert. Anders als bei den Windsbachern singen hier auch ein paar Männerstimmen mit, die die Schule schon etwas länger hinter sich haben. Der Blick über den nationalen Tellerrand zeigt, dass die Tradition des Knabenchors auch in Polen begeistert gepflegt wird. Den Abschluss macht das von Sykulski dirigierte gemeinsame „Locus iste“ von Anton Bruckner.

Ältester Knabenchor der Welt

Das zweite Konzert teilen sich die Regensburger Domspatzen unter der Leitung von Domkapellmeister Christian Heiß, früher selbst Mitglied dieses weltweit ältesten Knabenchors, in St. Lorenz mit dem Nidarosdomens Guttekor, dirigiert von Bjørn Moe und an der Orgel begleitet von Marilyn Brattskar. Der Traditionschor aus der Oberpfalz stellt Motetten aus verschiedenen Jahrhunderten vor und wirft mit dem „Vaterunser“ von Aleksandar S. Vujić sowie dem „Ave Maria“ von Rihards Dubra auch einen Blick in die Gegenwart. Die Gäste aus dem norwegischen Trondheim, in dem ebenfalls ältere Männerstimmen mitsingen, beeindrucken durch einen frischen, kraftvollen Ton. Fielen die polnischen Knabenstimmen durch fesche Hosenträger auf, tragen die Choristen hier purpurrote Chorgewänder. Noten sucht man bei den Knaben übrigens vergebens – hier wird alles auswendig gesungen, selbst die drei Stücke aus Knut Nystedts „Prayers of Kirkegaard“ und Jon Laukviks „Discipline“ aus dem Jahr 2013 – nomen est omen. Auch dieses Konzert endet mit einem gemeinsamen Stück beider Chöre: Deutsche und Norweger singen den „Sommarpsalm“ des Schweden Gustav Waldemar Åhlén – mehr Europa geht nicht.

Wohlklang auch ohne Männerstimmen

Zurück in St. Sebald hört das Publikum den offenbar auch recht gut durch die Pandemie gekommenen Knabenchor Hannover unter Jörg Breiding, der nicht nur mit Sergej Rachmaninows „Borogoditse Devo“ und „Beati mortui“ für Männerchor von Felix Mendelssohn Bartholdy gefällt, sondern sich sogar an zwei Bachmotetten („Ich lasse dich nicht“ und „Der Geist hilft“) wagt. Sagt das Sprichwort, dass auch andere Mütter schöne Töchter haben, kann man das musikalisch umdeuten: Nicht nur in Windsbach wird mit Leidenschaft gesungen – die Hannoveraner sind nur vier Jahre jünger als ihre Gastgeber. Auch hier endet die Chor- nicht zwingend mit der Schulzeit, doch spätestens mit 40 Jahren ist dann Schluss.

Mit der von Llorenc Casteló i Garriga dirigierten Escolania de Montserrat erlebt man eine faszinierende Überraschung: In diesem mehr als 700 Jahre alten Knabenchor singen keine Männer, man hört nur Sopran- und Altstimmen. Das klingt anfangs etwas ungewohnt, entpuppt sich jedoch als wundervoll meditativer und schlichter Gegenpol zur gewohnten Polyphonie. Auch hier gibt es zum Teil Orgelbegleitung, gespielt von Mercè Sanchis. Was besonders beeindruckt, sind die talentierten Solisten. Man hört Werke spanischer Komponisten und das „Ave Maria“ von Bernat Vivancos kommt einem bekannt vor, lehnt es sich doch an das bekannte Stück von Charles Gounod an, das wiederum auf Bachs C-Dur-Präludium basiert. Das gemeinsame „Denn er hat seinen Engeln“ von Mendelssohn Bartholdy beschließt das Konzert.

Klangkosmos Knabenchor

Kurzes Durchschnaufen und dann geht es zum Finale wieder nach St. Lorenz. Das Konzert ist per Livestream weltweit im Internet zu sehen und wird von BR-Sprecher Clemens Nicol, einem ehemaligen Windsbacher Sänger, moderiert. Zuvor gibt es noch Grußworte: Dr. Kerstin Engelhardt-Blum überbringt als Regierungsvizepräsidentin von Mittelfranken die Grüße der bayerischen Staatsregierung und dokumentiert die Wertschätzung der Politik für die (nicht nur) in Windsbach geleistete kulturelle Arbeit; Diakoniepräsident Michael Bammessel spricht für das Kuratorium des Windsbacher Knabenchores, freut sich einfach über dieses „wunderbare Geburtstagsgeschenk“ und betont, wie intensiv man in Windsbach seine Persönlichkeit entwickeln, sich selbst und dabei die Geheimnisse der Musik und des Glaubens entdecken könne.

Nun singen alle Chöre noch einmal hintereinander und lassen das Publikum in den „Kosmos Knabenchor“ eintauchen. Für wohlige Gänsehautmomente sorgen die Windsbacher mit Josef Rheinbergers „Abendlied“, neue Facetten zeigen die Gäste aus Posen mit „Ameno“ der französischen New-Age-Popgruppe Era und „Imbakwa moyo“ auf Swahili.

Dann wird es eng im Chorraum, denn alle Sänger treten gemeinsam auf und singen Marcel Duruflés „Ubi caritas“ und Bruckners „Locus iste“: Kraftvolle Harmonien aus über 300 Kehlen strömen in das Gotteshaus, in dem die Windsbacher schon mehr als 500-mal die traditionelle Motette gestalteten – ein ergreifender Augenblick, den man fast unkommentiert lassen möchte, würde einem da nicht das Lied auf die Freundschaft einfallen, das kurz zuvor noch die Norweger angestimmt hatten. Und darin heißt es: „Vivat, crescat, floreat“ – „Sie möge leben, wachsen und blühen!“ Diesen Wünschen ist nichts mehr hinzuzufügen – außer vielleicht ein „Da capo“: Dankbarer Applaus beendet das Festival zu Ehren des Jubilars aus Windsbach.

Fotos: Jens Wegener