Portrait

Auf einen Tee mit Peter Pan

Peter Pan ist der Junge, der nie erwachsen werden will. Die Geschichte von James M. Barrie steht in der Spielzeit 2022/23 am Mainzer Staatstheater als Oper auf dem Plan. Und die Rolle des Peter Pan singt mit Yosemeh Adjei ein ehemaliger Windsbacher.

Noch wenige Stunden bis zum Auftritt. Wir treffen Yosemeh Adjei im Restaurant „Zum Grünen Kakadu“. Der Countertenor singt in Mainz die Titelrolle in der Oper „Peter Pan“ von Richard Ayres. Das Libretto von Lavinia Greenlaw basiert auf der Erzählung des schottischen James Matthew Barrie (1860-1937).

Deren Inhalt ist rasch erzählt: Peter Pan wird als einziges aller Kinder nie erwachsen, sondern bleibt immer Junge. Er lebt auf Nimmerland und ist Anführer der „Lost Boys“, einer Gruppe von heimatlosen Waisen. Peter trifft auf seinen Reisen in London die Familie Darling und ihre Kinder Wendy, Michael und John. Gemeinsam mit ihm und der Elfe Tinkerbell reisen die Geschwister nach Nimmerland, wo sie verschiedene Abenteuer erleben. Die gipfeln im Kampf mit Piraten und Peter Pans Gegenspieler Captain Hook, der schließlich von einem Krokodil gefressen wird.



Uns gegenüber sitzt also der Pan-Darsteller Yosemeh. Und trinkt Tee. Er sang von 1983 bis 1990 im Windsbacher Knabenchor. Und zwar durchgehend im Alt-Register. Doch bevor er das Singen letztendlich zum Beruf machte, spielte er professionell Trompete. Das Instrument erlernte er ebenfalls in Windsbach: „Als wir das Weihnachtsoratorium von Bach gesungen haben, war für mich der Moment, in dem die Pauken und Trompeten dazukamen, immer schon magisch und faszinierend! Und eines Tages haben meine Freunde Christoph und Hartmut gemeinsam mit dem Schulorchester das Doppelkonzert für zwei Trompeten und Orchester von Vivaldi musiziert. Das war damals in der Windsbacher Stadthalle und ich stand hinten an der Eingangstür – das weiß ich noch, als ob es erst gestern passiert wäre: Die beiden haben so toll gespielt, das war ein so wunderbarer Klang, dieses Strahlen, diese Lebensfreude! Das hat mich gepackt und regelrecht infiziert! Anschließend wollte ich das unbedingt auch machen.“

Trompete und Gesang

Yosemeh studierte das Instrument in Karlsruhe und spielte danach lange im WDR-Rundfunkorchester Köln. Das Erlernen eines Instruments – in Windsbach ja neben dem Chorsingen ein „Pflichtfach“ – bezeichnet der Sänger übrigens als unglaubliche Bereicherung: „Der Gesang, die Stimme ist das natürlichste Instrument, das wir haben. Aber für die Auffassung rationaler Zusammenhänge in der Musik ist es immer gut, ein Instrument zu beherrschen, weil man da Verbindungen in der Musik herstellen kann, die sich durch den Gesang zunächst nicht unbedingt erschließen. Nehmen wir einfach mal das Klavier: Wenn wir singen, singen wir immer linear, nämlich Melodien; und daher denken wir auch entsprechend linear. Auf dem Klavier habe ich Akkorde, musiziere und denke daher also auch horizontal. Diese Akkorde ziehen sich in aller Regel durch Musik und haben immer eine Funktion, die die Melodie, also das Lineare elementar beeinflusst. Und für eine professionelle Berufsausübung im Musikbetrieb – und nichts anderes machen die Windsbacher ja – ist das Bewusstsein dieser Zusammenhänge enorm wichtig.“

Nach 14 Jahren im Orchester änderte Yosemeh sein Betätigungsfeld: „An einem gewissen Punkt musste ich feststellen, dass das, was ich an musikalischer Schule in Windsbach mitgekriegt habe, für mich als Orchestermusiker nicht in Gänze umsetzbar war; in mir war einfach viel mehr drin, als ich als Orchestermusiker hätte einbringen können.“ Er studierte Gesang und konzentrierte sich auf seine Solokarriere, die ihn bislang nicht nur auf die großen Bühnen der Welt, sondern 2017 auch zurück nach Windsbach brachte: Da nahm er mit seinem früheren Chor Motetten des Nürnberger Komponisten Johann Staden (1581-1634) auf. Yosemehs Repertoire reicht heute durch alle Epochen, was nicht zuletzt durch das Engagement am Mainzer Staatstheater dokumentiert wird: Die Musik des 1965 geborenen Opernkomponisten Richard Ayres klingt allerdings – diplomatisch ausgedrückt – ganz anders als die eines Johann Staden …

„Windsbach war für mich enorm wichtig“

Gefragt nach seinen Erinnerungen an seine Zeit in Windsbach erzählt Yosemeh: „Windsbach war für mich enorm wichtig. Ich war ja erst vier Jahre in Deutschland und dieser Chor war für mich auch eine Art Ankommen in dieser Welt. Meine ersten sechs Lebensjahre hatte ich mit meiner Familie in Ghana verbracht und als ich dann nach Windsbach kam, empfing mich ein ganz anderes Umfeld: das Ländliche mit seinen Strukturen und den Menschen. Die Musik hat mich damit verbunden und mir das Gefühl gegeben, eine Sprache gefunden zu haben, mich auszudrücken und kommunizieren zu können. Und das hat mich für mein ganzes Leben geprägt.“

Waisen wie die „Lost Boys“ bei Peter Pan sind die Windsbacher ja zum Glück nicht, auch wenn sie im Sängerinternat und nicht bei den Eltern wohnen. Ihre Familie ist der Chor (und ihr Captain Hook vielleicht die Schule). „Ich kann mir jedenfalls keinen Ort vorstellen, an dem man als junger Mensch konstruktiver an Musik herangeführt werden kann als in Windsbach“, betont Yosemeh: „Über Jahre wird einem in jeder Probeminute vermittelt, was das Faszinierende an Musik sein kann, was ihren Kern ausmacht und was sie uns damit sagen will. Ich bin unglaublich dankbar dafür, denn hier liegt das Fundament meines Reichtums an Klangvorstellung, Auffassungsgabe und Interpretationsfähigkeit. Mit diesem Schatz an Erfahrung kann man unter Umständen auch ganz andere Dinge im Leben aus anderen Blickwinkeln sehen. Das schafft Zuversicht und innere Stärke.“



Viele Windsbacher tun sich schwer damit, wenn sie nach dem Abitur Chor und Sängerinternat verlassen müssen; manche hängen sozusagen noch mal ein Jahr dran und leisten ihren Freiwilligendienst in Windsbach. Haben sie somit irgendwie nicht alle etwas von Peter Pan, dem Jungen, der nicht erwachsen werden will? Gefragt, ob sich auch er in dieser Rolle wiedererkennt, sagt Yosemeh: „Ich finde in jeder meiner Rollen gewisse Parallelen zu meiner eigenen Persönlichkeit. Ob das jetzt der Elfenkönig Oberon im ‚Sommernachtstraum‘ oder der Feldherr Ezio in der gleichnamigen Oper von Händel oder eben auch Peter Pan ist. Manchmal spiegelt der Rollencharakter auch Facetten von mir wider, was ich bei authentischer Interpretation als ‚roten Faden‘ für mich nutzen kann. Bei Peter Pan erkenne ich sicher einiges, was meiner natürlich gelebten Persönlichkeit sehr nahe kommt: Er ist stets aktiv, mal präsent, mal im Hintergrund, aber immer in Bewegung. Er mag es nicht sonderlich, wenn Dinge anders laufen als von ihm gedacht. Und unter vielen Menschen fühlt er sich wohler als alleine, um nur ein paar Beispiele zu nennen.“

Gefragter Countertenor und Dozent in München und Leipzig

Yosemeh lebt heute in München; hier und in Leipzig unterrichtet er an den jeweiligen Hochschulen für Musik und Theater Barockgesang und -trompete. Wieder so ein Heimkommen. Und tut sich da nicht eine weitere Parallele zu Peter Pan auf? Der Musiker ist heute 49 Jahre alt. Und doch hat er sich seine Lieben aus der Kindheit, das Singen und das Trompetenspiel erhalten. Und so, wie er davon erzählt, hört man noch immer die Begeisterung des Windsbacher Sängerknaben heraus: „Wenn ich singe, dann fühle ich mich aufgehoben in der Gemeinschaft“, fasst er das erhebende Gefühl in Worte, das ihn auch heute befällt – beispielsweise im Balthasar-Neumann-Chor, wo er schon mal auf den einen oder anderen früheren Windsbacher trifft.

Dieses Gefühl gibt er auch gerne weiter: „In der damaligen Situation der Migrationskrise im Herbst 2015 hat mich eine engagierte Museumspädagogin angesprochen, ob ich mich mit einem Projekt für Geflüchtete beteiligen wollen würde“, erzählt Yosemeh. Da das Singen nahelag, schlug er einen Chor vor. „Die allermeisten Teilnehmenden – es waren wirklich Menschen, Frauen und Männer, aus vielen verschiedenen Ländern! – hatten bis dato natürlich noch keinen Kontakt zu ihrer Gesangsstimme oder Musik wie ‚Am Brunnen vor dem Tore‘ oder an Weihnachten ‚Jingle Bells‘. Das Schöne dabei war zu beobachten, mit welch großer Freude und Engagement sich die Teilnehmenden in diese Gruppe eingefügt haben.“ Sowohl diese Kontakte als auch Auftritte in der „Langen Nacht der Museen“ oder bei verschiedenen Sommerfesten der Unterkünfte hätten den Teilnehmenden sehr viel bedeutet und eine willkommene Abwechslung in deren aktuelle Lebenssituationen gebracht. „Nicht zuletzt denke ich, dass mein eigener Migrationshintergrund einen stabilen Brückenschlag ermöglichte, um sich in diesem Raum mit viel Vertrauen zu begegnen. Für mich war am interessantesten zu beobachten, wie das gemeinsame Musizieren so einfach und unkompliziert Menschen aus den verschiedensten Kulturkreisen zusammenbringen kann, wenn alle Beteiligten sich darauf einlassen.“



Apropos Offenheit und Einlassen: In der Inszenierung von „Peter Pan“ am Mainzer Staatstheater hatte Yosemeh mit der Schauspielerin Adriane Große eine besondere Partnerin, denn die Darstellerin der Elfe Tinkerbell ist gehörlos. Da Richard Ayres seine Oper so schrieb, dass Tinkerbell nicht singt, hatte Regisseurin Nina Kühner die Idee, diese Rolle mit einer Gehörlosen zu besetzen, die mit allen in Gebärdensprache kommuniziert. So lernten die Figuren voneinander, sich zu verstehen, auch wenn nicht alle die gleiche Sprache sprechen – in Nimmerland eben kein Problem. Auch Yosemeh empfand diese Zusammenarbeit als große Bereicherung: „Der Umgang mit Adriane war von Beginn an im ganzen Produktionsteam von Empathie und Respekt geprägt, so dass sie die Möglichkeit hatte, sich in ihrer Rolle zu finden und auszuleben wie alle anderen auch.“ Besonders spannend fand der Sänger, dass er die Gehörlosigkeit seiner Kollegin irgendwann gar nicht mehr als Einschränkung in der Arbeit und gemeinsamen Kommunikation wahrnahm: „Ich habe so viel von ihr lernen können und bin für diese Erfahrung so dankbar. Die Begegnung mit dem Unbekannten, das unter Umständen zunächst als Unsicherheit empfunden wird, kann mit offenen Armen und offenem Herz zu einem Teil von einem selbst werden. Und daher freue ich mich sehr darüber, wenn, wie in unserem Fall, Inklusion in der Theater- und Opernwelt immer mehr Räume findet. Davon können alle nur profitieren!“

Der Tee im „Grünen Kakadu“ ist ausgetrunken und für Yosemeh wird es Zeit: Die Maske für die abendliche Vorstellung ruft und er muss sich ja auch noch einsingen. Nur wenig später steht der frühere Windsbacher als Peter Pan auf der Bühne des Kleinen Hauses im Mainzer Staatstheater und schlägt mit den anderen Mimen sowie dem von Hermann Bäumer dirigierten Philharmonischen Staatsorchester das Publikum in seinen Bann – und dass nicht nur als Sänger: auch als Schauspieler und sogar als Artist: Denn Peter Pan „fliegt“ an Gurten und Seilen („Flugwerk“ nennt sich das in der Fachsprache) befestigt über die Bühne – und das singend! Am Schluss steht Yosemeh mit allen anderen und genießt den begeisterten Applaus – wie früher in Windsbach …

In der Sendung Aktuell Rheinland Pfalz berichtete der SWR über diese Produktion und interviewte dafür auch Yosemeh Adjei. Der Beitrag ist bis zum 16. Dezember 2024 zu sehen und startet ab Minute 17:15.

Fotos: Staatstheater Mainz/Andreas Etter