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Die große Stille

Wie der Windsbacher Knabenchor in seiner bald 75-jährigen Geschichte plötzlich überhaupt nicht mehr singen durfte. Und was sich seither im Sängerinternat getan hat. Ein Rückblick kurz vor den Sommerferien.

„Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will“, heißt es im Bundeslied der ersten sozialdemokratischen Partei 1863. Doch der Textdichter Georg Herwegh meinte damit den „Mann der Arbeit“, während es im März das Coronavirus war, das nicht nur in Windsbach alles stillstehen, sondern auch den Knabenchor verstummen ließ: Am 20. März musste das Sängerinternat mit dem bundesweiten Shutdown auf Geheiß des Ansbacher Gesundheitsamts schließen. Die Auftritte mit Bachs Matthäus-Passion in Nürnberg und Frankfurt entfielen, das Chorgeschehen kam komplett zum Erliegen – doch nur analog.

Denn digital versuchten Chorleiter Martin Lehmann und sein Team mit allen Sängern in Verbindung zu bleiben: Instrumentalunterricht und Stimmbildung wurden so gut es geht online erteilt. Eigens eingerichtete Online-Tutorials versorgten die Jungs zuhause mit Lernhilfen zur Chormusik, Stimmbildungseinheiten, Musikrätseln und -theorie sowie Hintergrundinformationen zu den aktuellen Chorwerken. Auch die Vorsingtermine fanden online statt. Parallel dazu trudelten die Absagen aller Konzerte bis einschließlich Juli ein.

„Die Online-Proben waren jetzt nicht unbedingt dafür da, um künstlerisch weiterzukommen oder musikalisch nachhaltig arbeiten zu können, sondern dienten vor allem dazu, dass der soziale Kitt, den unsere Chorarbeit ja auch bildet, nicht brüchig wird“, erzählt Martin Lehmann.

Öffnung in kleinen Schritten

Nachdem die Republik in kleinen Schritten langsam zur Normalität zurückzufinden versuchte, kehrten nach den Osterferien zuerst die Zwölftklässler und die Schüler der vierten Jahrgangsstufe ins Sängerinternat zurück; es folgte die Hälfte der elften Klasse. Zwischenzeitlich hatten sich die Knabenchöre in Bayern und deutschlandweit vernetzt, um die Öffentlichkeit über die Probleme der Knabenchorarbeit durch Corona zu informieren. Auch Zeitungen, Rundfunk und Fernsehsendungen wie die Tagesschau in der ARD gingen auf den Hilferuf der Chöre ein. Es folgten Briefe an Ministerpräsident Markus Söder, Innenminister Joachim Herrmann und Kultusminister Bernd Sibler und schließlich Gespräche im Kunstministerium mit allen Verantwortlichen.

Grünes Licht für gemeinsame Proben

Der entscheidende Schritt folgte nach den Pfingstferien: Staatsminister Sibler rief persönlich an und gab grünes Licht für den Chorunterricht in Kleingruppen, mit strengen Abstands- und Hygieneregeln sowie Auflagen bezüglich Probendauer und Lüftungsintervallen. Geprobt wurde bis zum Juni weiterhin online, Stimmbildung und Instrumentalunterricht erfolgte in Windsbach wieder analog. Drei Tage später waren dann bis auf die Schüler der vierten und der fünften Gymnasialklasse sowie die Realschüler (im 14-tägigen Wechsel) alle Choristen wieder im Sängerinternat eingezogen.

Eingeschränkte Nachwuchssuche

In diesem Jahr gab es Corona bedingt keinen Tag der offenen Tür und die Eignungsprüfungen, sowie das Schul-Scouting konnten nicht stattfinden. Deshalb baute man auf die Eignungsprüfung über Videokonferenz. So sieht es in puncto Nachwuchs für das neue Schuljahr gar nicht so schlecht aus. Im Chorbüro zählt man bislang 19 Gymnasial-Anmeldungen der fünften Klasse, (vier der 19 Jungs singen bereits seit der vierten Klasse in Windsbach); in rund 45 Eignungsprüfungen konnten 25 Jungs als geeignet ermittelt werden, von denen sich mittlerweile knapp 20 angemeldet haben. Um auch in den zukünftigen Jahrgängen wieder zahlreiche Neueinsteiger willkommen heißen zu können, fasste man die fünf Klangfänger-Gruppen in Windsbach, Nürnberg, Pappenheim und Rothenburg online zusammen. Somit „probten“ auch die potenziellen Nachwuchssänger in dieser Zeit weiter.

„Wenn man nicht ständig am Ball bleibt, kriegt man schnell große Probleme.“

Martin Lehmann ist nicht nur ein exzellenter Chordirigent, sondern auch Realist: „Corona hatte auf den Betrieb in Windsbach schwerwiegende Auswirkungen. Das ist wie bei einer Mannschaft im Hochleistungssport: Wenn man da nicht ständig buchstäblich am Ball bleibt, kriegt man schnell Probleme.“ Und die äußerten sich in Windsbach bei vielen mit einem früheren Einsetzen des Stimmbruchs, der Wissenstransfer von den Älteren zu den Jüngeren war komplett gekappt und die Konzentration hatte durch die lange Pause gelitten. So musste das musikalische Verständnis, der Stimmsitz und Chorparameter wie Dynamik, Hören, Dirigat, Sprache und der mehrstimmigen Zusammenklang wieder intensiver geübt werden. Braucht der Chor nach sechs Wochen Sommerferien aufgrund des Ausscheidens der Absolventen etwa zwei Monate, um sein angestammtes Niveau zu erreichen, rechnet Lehmann aktuell mit einer deutlich längeren Stabilisierungsphase. Durch den Zusammenbruch des Konzertmarkts bundes- und weltweit kann der Chor aufgrund von abgesagten oder verschobenen Konzerten derzeit außerdem auf keinerlei Einnahmen bauen. Trotzdem sind alle Mitarbeiter des Chorzentrums zuversichtlich, dass die nun erfolgte Annäherung an den Zustand vor Corona – zum Beispiel regelmäßige Ensembleproben und erste Kleingruppen-Auftritte nach den geltenden Hygienevorgaben – ein Modell ist, den Chor sicher durch die bewegten Zeiten zu führen.

Statt großer Konzerte sang der Knabenchor bis zu den Sommerferien zwei Lorenzer Motetten in Nürnberg sowie Chorandachten in Windsbach, Pappenheim, Arberg und als emotionalen Höhepunkt das Abschlusskonzert für die Absolventen im Gut Wolfgangshof bei Nürnberg. Das Ziel: Jeder Chorsänger sollte mindestens einen Auftritt mitgestalten. Die Botschaft: Der Windsbacher Knabenchor ist wieder da.

Corona hat die Welt verändert – wie sich das in letzter Konsequenz auf das Internat und den Knabenchor auswirkt, bleibt abzuwarten. In der Motette von Rudolf Mauersberger, die der Chor eigentlich in seinen Konzerten jetzt singen wollte und die die wüst liegende Stadt Dresden beschreibt, heißt es: „Bringe uns, Herr, wieder zu Dir, dass wir wieder heimkommen! Erneue unsre Tage wie vor alters.“ Also bleiben wie bei Paulus im ersten Korintherbrief auch hier: „Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei“ – wobei aktuell wohl die Hoffnung die größte unter ihnen ist …